Das Wort Allgemeinbildung kann man heute nicht mehr aussprechen, ohne als hoffnungslos veraltet zu gelten.
Modern ist es, Allgemeinbildung durch Spezialbildung, das heißt durch für die Arbeitswelt zweckmäßige Fähigkeiten, zu ersetzen. Aber was geht uns dadurch verloren? Julian Nida-Rümelin meint, dass unsere Jugendlichen, wird ihnen die Allgemeinbildung vorenthalten, das gemeinsame Hintergrundwissen verlieren, das die Basis unserer gemeinsamen Lebensform ist. „Allgemeinbildung ist im Kern dieses: Die Voraussetzung einer geteilten Lebensform bereitzustellen.“ (Nida-Rümelin „Der Akademisierungswahn“, Hamburg 2014)
Diese geteilte Lebensform beruht aber nicht nur auf gemeinsamen Normen der Interaktion, sondern auch auf einem gemeinsamen kulturellen Erbe. Dieses gemeinsame kulturelle Erbe wird zum Beispiel durch den literarischen Kanon repräsentiert, der im alten Deutschunterricht durchgearbeitet wurde. Und in jedem literarischen Werk, das dieser Kanon beinhaltet, werden psychologische, soziologische, ökonomische und politische Konstellationen der Vergangenheit beschrieben, deren Kenntnis und Verständnis auch äußerst hilfreich sind für die Beurteilung von Gegenwartsphänomenen. So kann die Lektüre von Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ einem jungen Menschen durchaus dabei helfen, das politische Phänomen Frank Stronach besser zu verstehen, ebenso wie Heinrich Manns „Der Untertan“ wertvolle Erkenntnisse über den auch heute wieder hervorstechend oft anzutreffenden autoritären Charakter liefern kann, der sich feige einem Führer unterordnet, um von diesem die Macht verliehen zu bekommen, über andere grausam zu herrschen. Oder Thomas Manns Erzählung „Mario und der Zauberer“ kann gewinnbringend im Hinblick auf die suggestive Kraft von politischer Kommunikation, der es nicht mehr darum geht, mit Argumenten zu überzeugen, sondern die Gefühle der Menschen zu mobilisieren und zu vereinnahmen, gelesen werden.
aus: „Verleitung zur Unruhe – Zur Hölle mit den Optimisten“ von Bernhard Heinzlmaier (Verlag Ecowin)