Literatur

David Foster Wallace

Im Jahr 2005 wurde David Foster Wallace gebeten, vor dem Abschlussjahrgang des Kenyon College über ein Thema seiner Wahl zu sprechen. Es ist die einzige solche Rede, die er je gehalten hat.
Nachfolgend ein Ausschnitt dieser Rede (publiziert im KiWi-Verlag – siehe oben)

In den alltäglichen Grabenkämpfen des Erwachsenendaseins gibt es keinen Atheismus. Es gibt keinen Nichtglauben. Jeder betet etwas an. Aber wir können wählen, was wir anbeten. Und es ist ein äußerst einleuchtender Grund, sich dabei für einen Gott oder ein höheres Wesen zu entscheiden – ob das nun Jesus ist, Allah, Jahwe, die Wicca-Göttin, die „vier edlen Wahrheiten“ oder eine Reihe unantastbarer ethischer Prinzipien -, denn so ziemlich alles andere, was Sie anbeten, frisst Sie bei lebendigem Leib auf.

Wenn Sie Geld und Güter anbeten – wenn hierin für Sie der wahre Sinn des Lebens liegt-, dann können Sie davon nie genug kriegen. Nie das Gefühl haben, Sie hätten genug. Das ist die Wahrheit.
Wenn Sie Ihren Körper, die Schönheit und erotische Reize anbeten, dann werden Sie sich immer hässlich finden, und wenn sich Zeit und Alter bemerkbar machen, werden Sie tausend Tode sterben, bevor man Sie dann wirklich unter die Erde bringt.
Auf einer Ebene kennen wir alle das schon – es liegt in Form von Mythen, Sprichwörtern, Klischees, Binsenweisheiten, Epigrammen und Parabeln kodiert vor: als Skelett jeder großen Erzählung. Knifflig ist nur, sich die Wahrheit im Alltag bewusst zu halten.
Wenn Sie die Macht anbeten, werden Sie sich schwach und ängstlich fühlen und immer mehr Macht über andere brauchen, um die Angst in Schach zu halten.
Wenn Sie Ihren Intellekt anbeten und als schlau gelten wollen, werden Sie sich am Ende dumm vorkommen, als Hochstapler, dem man jeden Augenblick auf die Schliche kommen wird.
Und so weiter.
Wissen Sie, das Heimtückische an diesen Formen der Anbetung ist nicht, dass sie böse oder sündhaft wären, sondern dass sie so unbewusst sind.
Sie sind Standardeinstellungen.
Sie sind Glaubensformen, in die man nach und nach einfach so hineinschlittert, jeden Tag ein bisschen mehr; man wird immer wählerischer bei dem, was man sieht und wie man Wert beurteilt, ohne eigentlich wahrzunehmen, dass man genau das tut. Und die sogenannte „wirkliche Welt“ hält einen auch nicht davon ab, gemäß diesen Standardeinstellungen zu operieren, denn sie sogenannte „wirkliche Welt“ der Männer, des Geldes und der Macht läuft wie geschmiert dank dem Öl aus Angst, Verachtung, Frustration, Gier und Selbstverherrlichung. Unsere heutige Kultur hat der spezifischen Nutzung dieser Kräfte außerordentlichen Reichtum, Komfort und individuelle Freiheit zu verdanken. Nämlich die Freiheit für jeden von uns, Herrscher seines winzigen, schädelgroßen Königreichs zu sein, allein im Mittelpunkt der Schöpfung. Diese Art Freiheit hat vieles, was für sie spricht.
Aber es gibt natürlich verschiedene Formen der Freiheit, und die kostbarste wird in der großen, weiten Welt des Siegens, Leistens und Blendens selten erwähnt.
Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.
Das ist wahre Freiheit.
Das heißt es, Denken zu lernen.
Die Alternative ist die Gedankenlosigkeit, die Standardeinstellung, die Tretmühle – das ständige Nagen, etwas Unendliches gehabt und verloren zu haben.
Ich weiß, dass das alles nicht so witzig, flott und inspirierend klingt, wie zentrale Thesen von Abschlussreden klingen sollten. Soweit ich sehe, ist es aber die Wahrheit, bei der jede Menge rhetorischer Schnickschnack weggeschnippelt worden ist. Davon können Sie natürlich halten, was Sie wollen. Aber tun Sie es bitte nicht als Moralpredigt mit erhobenem Zeigefinger ab. Es geht hier nicht um Moral, Religion, Dogmen oder wichtigtuerische Überlegungen zum Leben nach dem Tod.
Die Wahrheit im Vollsinn des Wortes dreht sich um das Leben vor dem Tod. Sie dreht sich um die Frage, wie man dreißig oder sogar fünfzig Jahre alt wird, ohne sich die Kugel zu geben. Sie dreht sich um den wahren Wert von Bildung, die nichts mit Noten oder Abschlüssen, dafür aber alles mit schlichter Offenheit zu tun hat – Offenheit für das Wahre und Wesentliche, das sich vor unser aller Augen verbirgt,…
(…)
Es ist unvorstellbar schwer – tagein, tagaus bewusst und erwachsen zu leben.
Und das bedeutet, dass noch ein Klischee wahr ist: Wir lernen wirklich fürs Leben – und die Ausbildung geht jetzt erst los.